Das Feuer weitergeben

von Bernhard Ott

Wenn wir in die Vergangenheit des ETG-Bundes blicken, wird uns klar: Das Inspirierende und bleibend Gültige an unserer Tradition ist nicht die Art und Weise, wie die alten Täufer im 16. Jahrhundert oder Samuel H. Fröhlich, der Gründer unserer Bewegung, im 19. Jahrhundert ihren Glauben gelebt haben. Das Feuer ist vielmehr die Radikalität mit der sie uns zurück zu den Wurzeln, zu Jesus verweisen.

Man kann es mit sechs Stichworten umreißen:

  • Eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander die Bibel lesen und in die Tat umsetzen, was sie entdecken.
  • Eine Lebensgestaltung in der Nachfolge von Jesus, die sich an der Bergpredigt orientiert.
  • Die Verwirklichung von gelebter Gemeinschaft, wie es die ersten Christen taten – bis hin zum Teilen von materiellen Gütern.
  • Eine Laienbewegung von Brüdern und Schwestern, die mehr dem Heiligen Geist als kirchlichen Hierarchien vertraut.
  • Den Frieden suchen, die Feinde lieben und aller Gewaltanwendung absagen, ganz so, wie Jesus es tat.
  • Eine Gemeinschaft, die sich von Jesus in die Welt senden lässt, um Menschen in die Gemeinschaft mit IHM einzuladen.

Im Laufe der Jahrhunderte ist dieses Feuer unter der Asche von Traditionen manchmal (fast) erstickt: Weltabsonderung, geschlossene Gemeinschaften, Gesetzlichkeit und interne Auseinandersetzungen – das tragen wir auch im Rucksack unserer Geschichte. Dankbar stellen wir aber fest, dass Gott unserer Gemeindebewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Aufbruch geschenkt hat. Wir haben Altlasten hinter uns gelassen und uns auf den Weg gemacht, eine freie, offene, zeitgemäße und einladende Kirche zu werden. Auf diesem Weg gilt es weitere Schritte zu gehen …

Dennoch müssen wir uns der Frage stellen: Haben wir auf diesem Weg möglicherweise mit der Asche auch manche Glut weggeräumt? Manche Zeichen der täuferischen DNA sind noch zu sehen, wie  Gemeinschaftssinn und Gastfreundschaft. Funktionale Gemeindehäuser, in denen der Speisesaal ebenso wichtig ist, wie der Gottesdienstraum. Das gemeinsame Mittagessen. Altenheime und Freizeithäuser. Eine hohe Bereitschaft aller zur Mitarbeit – bis heute gehört dazu auch der Dienst von Laienpredigern. Erachten wir all dies als Asche oder als Glut? Als Hindernisse auf dem Weg in die Zukunft oder als oftmals brachliegendes Potenzial?

Die Glut unter der Asche entdecken

In einer Zeit, in der traditionelles und institutionelles Christentum zunehmend zum Auslaufmodell wird, ist die täuferische Tradition wie ein Schatz, den es wieder zu entdecken gilt. Unsere täuferischen Vorfahren weisen uns radikal zu Jesus. Die Glut unter der Asche heißt „jesuanisch  leben“! Ich träume von christlichen Lebensgemeinschaften, die einfach und überzeugend so leben, wie Jesus es gelehrt und vorgelebt hat. Die mit ungeteiltem Herzen dem guten Vater im Himmel vertrauen. Vertrauend, dass er für sie sorgt, so dass sie frei sind, gastfreundlich und großzügig mit anderen zu teilen, was sie haben. Die an der Ungerechtigkeit in unserer Welt leiden und den Wohlgeruch von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verbreiten. Die dem Fremden gastfreundlich begegnen und die Feinde lieben. Die sich nicht in ihren religiösen Gemäuern verschanzen, sondern bei den Menschen sind – da wo sie leben und arbeiten, feiern und leiden. Die ein Hoffnungszeichen setzen in dieser Welt, wie eine weitherum sichtbare, einladende Stadt auf dem Berg wahrgenommen wird. Die unerschrocken und im Angesicht aller Herren dieser Welt bekennen, dass Jesus Christus Nummer 1 in ihrem Leben ist. Die in Anbetung und Verkündigung, in Gottesdienst und Abendmahl nicht nur die individuelle Frömmigkeit, sondern die Not der Welt vor Augen haben. Die um ihr eigenes Versagen und ihre eigene Mangelhaftigkeit wissen und in kühner Demut bekennen, dass sie durch Jesus Christus einen liebenden und vergebenden Gott kennengelernt haben. Die in aller Gebrochenheit auch Vergebung und Versöhnung untereinander erfahren. Die sich sehnlichst wünschen und täglich beten: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde.“

Der Wind Gottes möge in die Glut unserer Tradition blasen, die Asche wegblasen und das Feuer immer wieder neu entfachen.