Die Unangepassten, die wir brauchen
Wir trafen uns Anfang November in einem Kunstraum in der Nähe des Hauptbahnhofs Stuttgart. Zwei Dutzend junge Leiter aus Süddeutschland und der Schweiz trafen sich, um über ihre Berufung und Leidenschaft zu reden. “Missionale Pionierarbeit” war der Titel und alle Anwesenden hatten Gottes Reich auf dem Herz. Hier waren Menschen mit Vision: von einem Hotelprojekt, über eine Doula, einem Fotografen, Eheberatung und einer Wohngemeinschaft. Ihre Vision war nicht, eine Rolle in einer Gemeinde zu übernehmen. Sondern ihre Leidenschaft mit dem Fokus von „Himmel auf Erden“ auszuleben. Selten haben sie bisher erlebt, dass Gemeinde sie dabei unterstützt oder wirklich versteht, was sie wollen. Auf der Tagung in Stuttgart wurde ihre Leidenschaft zum zentralen Thema. Einige haben auch die eine oder andere Wunde mitgenommen, wurden in Frage gestellt oder ignoriert.
Wer sich mit Neuland auseinandersetzt, muss bereit sein, neue Wege zu gehen. Doch wie gelingt das ohne Chaos?
Die Kraft der Unruhe
Von den ersten Jüngern bis hin zu den großen Erneuerungsbewegungen der Kirche: Apostel standen immer an vorderster Front. Petrus, Paulus und die frühen Apostel wagten es, die Welt auf den Kopf zu stellen – mit einer Botschaft, die noch nie Dagewesenes formulierte. Sie reisten unermüdlich, gründeten Gemeinden und brachten das Evangelium in neue Regionen. Doch ihre Rolle gestaltete sich schon damals nicht ohne Konflikte. Immer wieder mussten sie Widerstände überwinden, sowohl von außen als auch aus den eigenen Reihen. Auch später prägten apostolische Persönlichkeiten die großen Erweckungen. Denken wir an die Reformation, die von Visionären wie Martin Luther oder Huldrych Zwingli getragen wurde. Oder an die Methodistenbewegung, die John Wesley mit unermüdlichem Einsatz vorantrieb. In jedem dieser Momente waren es Menschen mit apostolischem Geist, die eine Ansage machten und das Neue wagten.
Auch außerhalb der Kirche finden wir solche Pioniere wie Steve Jobs, der bei Apple eine „Piratenethik“ etablierte und seine Mitarbeiter ermutigte, ungehindert von Bürokratie, schnell und mutig zu handeln. Seine „Think Different“-Philosophie und das berühmte „To the Crazy Ones“-Video wurden zum modernen Manifest für Menschen, die wie die frühen Apostel bereit sind, neue Wege zu gehen.
Das Muster bleibt: Wo „verrückte Visionäre“ wirken, entsteht Bewegung – aber auch Reibung. Ihre Fähigkeit, Neues zu sehen und ihr Drang schaffen Dynamik. Doch der Erfolg hängt davon ab, die Spannung auszuhalten, die diese apostolische Kraft mit sich bringt.
Visionäre mit Ecken und Kanten
Apostel haben einen inneren Antrieb, eine mitreißende Energie und eine Liebe für das Neue. Ihre Welt dreht sich nicht um Bewahrung des Bestehenden, sondern um einen Auftrag und Veränderung. Ihr Leben ist geprägt von Leidenschaft und Entschlossenheit. Sie wollen Dinge schnell voranbringen und zeigen oft wenig Geduld für langsame Entscheidungsprozesse oder traditionelle Strukturen. Ihre Sprache ist direkt, ihre Forderungen oft frech, Geduld ist nicht ihre Hauptstärke und, diese Eigenschaften bergen das Potenzial für Konflikte. Ein Apostel wird in einer gewachsenen, bewahrenden Gemeinde oft auf Widerstand stoßen. Viele empfinden sie als Bedrohung, als Unruhestifter, weil sie Bestehendes infrage stellen oder Veränderungsdruck erzeugen. Auf der anderen Seite fühlen sich Apostel in solcher Umgebung schnell unverstanden oder blockiert – und das führt häufig dazu, dass sie frustriert die Gemeinde verlassen. Aber es ist genau diese Spannung, die den Kern ihrer Bedeutung ausmacht. Ihre Andersartigkeit ist ein Geschenk, um die Kirche voranzubringen.
Die Kirche im Sicherheitsmodus
Viele Kirchen waren einst voller Energie und Vision, scheinen heute zu stagnieren. Es sind genau jene Gemeinden, die in ihrer Anfangszeit von apostolischen Persönlichkeiten getragen wurden – von Menschen, die bereit waren, Risiken einzugehen, neue Wege zu gehen und Grenzen zu überschreiten. Doch irgendwann setzten sich Strukturen durch, die auf Stabilität und Bewahrung ausgerichtet waren, und der Raum für Apostel verschwand. Das Ergebnis ist sichtbar: Gemeinden kämpfen damit, neue Menschen zu erreichen oder dynamische Gemeinschaften zu gründen. Statt mutiger Innovation regiert das Sicherheitsdenken. Ohne den Impuls apostolischer Persönlichkeiten fehlen die Energie und der Wille, sich auf unsichere Wege von Gemeindegründung und missionalen Experimenten einzulassen. Doch diese Entwicklung ist nicht unumkehrbar. Die Kirche kann ihre Kraft zurückgewinnen, wenn sie erneut Platz schafft für apostolische Persönlichkeiten. Ihnen den Raum gibt, zu wirken – auch wenn das bedeutet, Spannungen auszuhalten. Denn ohne Apostel bleibt die Kirche stehen. Mit ihnen kann sie wachsen.
Wir brauchen diese Unbequemen
Der November in Stuttgart zeigte, dass sie da sind. In jeder Gemeinde gibt es Menschen mit Sehnsucht für etwas Großes. Oft nicht in einer Form, die auf “Mitarbeit” in der Gemeinde passt. Wir brauchen Hilfe im Begrüßungsteam und jemand für die Technik – sie träumen von Künstlicher Intelligenz, ihrer Stadt, ihren Arbeitskollegen und neuen Organisationen, um Himmel auf Erden zu bringen. Wenn wir sie nicht nehmen, gehen sie in die Wirtschaft, in NGOs oder sonst wohin. Sie sind ein Geschenk und eine Gabe – mit allen Macken. Apostel sind keine Garantie für Erfolg. Doch ohne sie verlieren wir das, was Kirche lebendig macht: Vision und Bewegung.
Der Schlüssel liegt in unserer Bereitschaft, diese Herausforderung anzunehmen und darin, Strukturen zu schaffen, die Apostel nicht bremsen, sondern fördern.
Der Autor Marlin Watling ist Pastor der Kirche Lindenwiese, Leiter des Spark Netzwerks und Betreiber von Tante Polly. Er liebt es, Nonkonformisten und Visionäre zu fördern und ihnen Raum für ihre Ideen zu geben.
Quelle: unterwegs 2025